Mit der Zeit lernt man, Vorsicht walten zu lassen. Kaum ein Spiel fürchtete ich in dieser Saison so sehr wie jenes Heimspiel gegen Tabellenschlusslicht Augsburg. Unter normalen Umständen wäre die Sache ja klar gewesen: überlegen spielen, schnelle Tore, dem Gegner den Zahn ziehen und bestenfalls noch hoch und zu Null gewinnnen. So viel zur Theorie.
Die Praxis aber sieht anders aus: es ist in der Hinrunde die 4. Mannschaft, die zu dem Zeitpunkt lange nichts Zählbares mehr geholt hat. Die bisherigen Spiele hat der VfB allesamt verloren. Voilá, hier haben wir ihn: den Grund zur Panik. Nach Berlin, Hamburg und Mainz kam nun Augsburg nach Stuttgart, um sich, wie man leider zurecht befürchten musste, wieder aufbauen zu lassen, sehr zu unserem Leidwesen, versteht sich.
Obligatorisch wurde ich Freitag Nachmittag noch von meinem Chef gefragt: “Wie ist ihr Tipp?” – zum ersten Mal konnte ich nicht antworten, ich konnte nur ahnend den Kopf schütteln. Getreu dem Motto: das Beste hoffen, das Schlimmste erwarten. Kein leichtes Spiel, so oder so. Die Tatsache, dass der VfB schon mehrfach der Serienbrecher für schwächelnde Mannschaften war, ich konnte einfach nicht mir genug Optimismus in die Partie gehen.
Es war ein geschäftiges Wochenende: am Freitag Geburtstagsparty bei einem langjährigen Freund inklusive ein nicht enden wollender Spaziergang durchs Bottwartal mit zahlreichen geladenen Gästen, oben auf dem Berg gabs Glühwein; am Samstag Weiberabend mit viel Lachen und Gackern; und nun am Sonntag das Spiel. Etwas Gutes hatte die Ansetzung am Sonntag schon vor Anpfiff: würde das in die Hose gehen, wäre zumindest nicht das komplette Wochenende ruiniert.
Die gewohnte Strecke von daheim erstmal zum Cannstatter Bahnhof, den Rest der Jungs und Mädels einsammeln, die heilige Strecke zum Neckarstadion und dort die letzten Minuten vorm Reingehen gemütlich verbringen. Die Unruhe wurde größer, der Bammel vor einer weiteren Niederlage war groß. Zwei Wochen nach dem Debakel von Mainz drohte die nächste Enttäuschung.
Eine weitere Tatsache setzte mir ebenfalls zu: die Ansetzung von Schiedsrichter Christian Dingert. Vor einigen Tagen hatte ich es im Internet gelesen. Schlagartig war die Erinnerung wieder da. Milivoje Novakovic fällt, Dingert pfeifft Elfmeter. Es blieb mir in Erinnerung, das 0:1 gegen Köln in der vergangenen Saison.
Es wurde Zeit, unsere Plätze im Stadion zu beziehen. Da wir aber in den unteren Reihen unseres Blocks wenig bis gar keine Fotos machen können, zog es schon bald wieder nach oben, wo ich auch nach langen Wochen Freundin Katrin wieder sah. Sie hatte ein gutes Gefühl, was aber eigentlich nie etwas zu sagen hat, wie sie mir mitteilte und damit meine Panik nur noch größer machte.
Zahlreiche Gäste sind mitgereist aus dem 160 km entfernten Augsburg. Manche bezeichneten es als Derby, Schwaben gegen Schwaben. Ob alle aufstehen, wenn das Lied “Steht auf, wenn ihr Schwaben seid” ertönt? Bei einer derart großen geografischen Entfernung und der Tatsache, dass Augsburg erst jetzt in die Bundesliga aufgestiegen ist, kann man natürlich nicht von einem Derby sprechen. Aber solche Diskussionen gabs ja schonmal vor einigen Wochen, gegen Hoffenheim.
Pünktlicher Anpfiff um 15:30 Uhr. Der Beginn einer unsäglichen ersten Halbzeit. Ich mag eigentlich gar nicht mehr groß darüber berichten. Es war einfach nur… schlecht! An Selbsterkenntnis mangelte es aber unseren Spielern zumindest nicht, denn durch die Bank weg gestand jeder vor laufenden Kameras, dass ein schönes Spiel anders aussieht.
Man konnte ziemlich genau sehen, wie gerne die Augsburger hier etwas Zählbares mitnehmen wollten. Sie rannten und kämpften um ihr Leben. Nahezu mühelos durch eine VfB-Mannschaft, die blutleer schien, die sich nicht anmerken ließ, dass es hier um wichtige Bundesligapunkte und die Beendigung eines Images geht, nein, es war nichts zu sehen von dem Willen, der uns schon einige Punkte in dieser bisher eigentlich ganz ordentlichen Hinrunde einbrachte.
Kopfschüttelnd und fast schon resignierend stand ich da. Gleich ist Halbzeit, wie immer die Hoffnung auf Brunos hoffentlich laute Kabinenansprache, diverse Male kamen sie frischer, befreiter und leidenschaftlicher zur 2. Hälfte auf den Platz. Auf den Rängen setzten sich schon die ersten Massen in Betrieb, die üblichen Hanseln, die 5 Minuten nach Anpfiff kommen und 5 Minuten vor Abpfiff gehen, um schneller weg zu kommen.
Es war nur ein Einwurf, keiner hatte gedacht, dass daraus etwas entstehen könnte, das unser Herz schneller schlagen lässt. Khalid Boulahrouz machte den Anfang, brachte den Ball über Umwege zu Pavel Pogrebnyak, der in Co-Produktion mit einem Augsburger weitergab zu dem heraneilenden Martin Harnik. Volley, mitten ins Tor, direkt ins Herz. Was für eine unerwartete Freude, gerne doch nehmen wir dieses Tor mit.
Ich drückte unzählige Male auf den Auslöser meiner Kamera, meine Hand zitterte ohnegleichen durch diese unerwartete Führung. Der Torschütze sprang in die Luft, war daraufhin umringt von Mitspielern. Erst in den Medienberichten sah und las ist, was er da tat nach seinem Tor: er packte Thors Hammer aus. Egal, welchen Schwaben man in dieser Partie die Daumen drückte, alle waren sich einig: dieses Tor kam aus dem Nichts.
Schon bald darauf war erstmal Halbzeit, kurz durchatmen und die Geschehnisse der letzten 5 Minuten Revue passieren lassen. Die Ruhe selbst war ich noch lange nicht. Wir führten vor 2 Wochen auch in Mainz, wie es ausging habe ich nicht vergessen. In beiden Fällen die Schiedsrichter im Mittelpunkt, die wir für zweifelhafte Elfmeterentscheidungen bereits verflucht haben. Nach 15 Minuten und einem 3/4 Trinkpäckchen pfiff Schiedsrichter Christian Dingert zur 2. Halbzeit, in der der VfB in Richtung Cannstatter Kurve spielen sollte.
Dass ein 1:0 zur Halbzeit noch lange kein Sieg ist, hat man mittlerweile hinlänglich am eigenen Leibe erfahren. Kaum waren 2 Minuten gespielt, machte sich wieder mein sehr ungutes Gefühl breit, denn Augsburg traf mit einem – wie ich zugeben muss \” unzweifelhaft schönen Treffer zum Ausgleich. Lange Gesichter, wohin ich auch blickte. Auf Haupt- und Gegentribüne und der Untertürkheimer Kurve jubelten vereinzelt ein paar Augsburger Fans.
Ist das bitter! All die schlimmen Befürchtungen, die Ängste, die Panik, die Verzweiflung, innerhalb kürzester Zeit erinnerte ich mich wieder daran, warum ich dieser Partie mit größter Anspannung entgegen sah. Es schien, als hätte sich Augsburg nun das zu Recht geholt, was sie sich in der 1. Halbzeit erarbeitet hatten. Dass noch genug Zeit war, das Spiel noch einmal zu unserem Gunste umzudrehen, vergaß ich in dem einen Moment zwischen 47. und 51. Minute.
Während die 1. Halbzeit nicht besonders ansehnlich war, fielen hier nun auf einmal die Tore. Kaum vom Schock des Ausgleichs erholt, vergaß man es auch schon wieder. Es begann wieder unscheinbar, Cristian Molinaro, manchmal zu unrecht gescholtener Außenverteidiger, passte auf der Außenlinie zum Torschützen des 1:0, Martin Harnik. Dieser legte den Turbo ein, legte einen Sprint hin dass einem schier schwindlig wurde, spielte die Augsburger Verteidigung aus und nahm die Gasse haargenau zum 2:1.
Ohrenbetäubender Jubel, es könnte kaum schöner sein. Obwohl ich nicht sah, wie der Ball letztendlich ins Tor trudelte da noch ein paar groß gewachsene Kerle vor mir standen (nein, nicht Felix, der stand hinter mir), es war mir egal, Hauptsache Tor, Hauptsache die erneute Führung. Und dieses Mal bitte nicht wieder durch Nachlässigkeiten wegnehmen lassen.
Und wieder packte er den Hammer aus, das ist unser T(h)or. Ich wusste schon immer, warum ich vom ersten Tag an große Stücke auf den gebürtigen Hamburger mit österreichischem (und deutschem) Pass hielt. Einer, der immer Vollgas gibt und persönliche Befindlichkeiten hinten anstellt, der sich in den Dienst der Mannschaft stellt und Tore macht, wo sie am wichtigsten sind und kein anderer sich dazu berufen fühlt. Torschütze mit der Nummer 7 \” Martin… HARNIK!
Glücklicherweise gab es für den Rest des Spiels nicht mehr sonderlich viel zu nörgeln. Das eine ums andere Mal hätte die Führung noch höher geschraubt werden können, doch in einer Phase, als sich der Leerlauf auf beiden Seiten wieder einstellte, hielt der VfB zumindest soweit dagegen, das meine Ängste nicht weiter geschürt werden konnten. Sie lauerten unter dem Mantel der aktuellen Führung.
Knapp 10 Minuten vor Schluss noch ein kleines Schüsschen vom Augsburger Kapllani, Ulreich war noch dran, ohne weitere Folgen. Man fieberte dem Abpfiff entgegen, der in solchen Spielen niemals früh genug kommen kann, wenn man zumindest ein Tor mehr geschossen als der Gegner. Dafür gibts auch 1 Euro ins Phrasenschwein.
Einzige Fehlentscheidung von Christian Dingert, den ich mit Argusaugen und voller Misstrauen beobachtete, es hätte sogar nochmal Elfmeter für ein Foul an Tamas Hajnal geben können. Sei es drum. Und ja, ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass mein Protest sehr lautstärk wäre, wäre dies beim Stand von 1:1 oder gar 0:1 passiert. Erleichtert vernahm ich den schrillen Pfeifton, der das Spiel für beendet erklärt hatten, pustete kräftig durch und war froh, in diesem Falle im Unrecht gewesen zu sein.
Ohne jeden Zweifel würden wir bei solchen Leistungen wie in der 1. Halbzeit nicht immer mit einem Erfolg davon kommen. Die Cannstatter Kurve feierte ihre Mannschaft, wie sie es immer tut nach mehr oder weniger betörenden Siegen: eine kurze Welle, ein bisschen Klatschen und nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Ich wünsche mir wirklich etwas mehr Emotionalität der Mannschaft für die Kurve, und umgekehrt.
Rasch ging es wieder heim, Bilder aufbereiten und hochladen. Zum Schreiben des Spielberichts noch am selben Abend konnte ich mich nicht durchringen. Das Wochenende hatte jetzt seine Spuren hinterlassen uns so reichte die letzte Kraft gerade noch so zum Abendessen, ein wenig Fernsehen und müde ins Bett fallen.
Schnell sind die Augen wieder nach vorne gerichtet, denn auch das nächste Spiel verspricht Spannung. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Spielberichts sind es nur wenige Stunden hin, jetzt gerade ist Samstag Abend, am Sonntag in aller Frühe brechen wir auf nach Bremen, wo wir letzte Saison ein vergleichsweise torarmes Spiel sahen. Die Hoffnung ist wieder mit im Gepäck, und der Wille, einen zeitnahen Spielbericht zu schreiben, ist ungebrochen!
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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