Was für ein Spiel! Wieder zurückerinnert an den Rumpelfußball des Spiels gegen Kroatien und der wenig erfreulichen Partie gegen Österreich folgte nach der Gala gegen Portugal wieder ein ganz schweres Spiel mit schweren Beinen. Ob das gut geht? Am Ende interessiert es jedoch keinen mehr. Deutschland steht im Finale und hat heute abend die große Chance, Europameister 2008 zu werden. Doch mal ganz langsam: was war das nur für ein packendes und spannendes Spiel? Ich spreche für viele, in dem ich sage: “Wir sind in den letzten 10 Minuten um 10 Jahre gealtert”.
Wieder zog es mich auf die Gottschedstraße in der Leipziger Innenstadt, wo ich bereits das Spiel gegen Kroatien gesehen habe. Mit in Begleitung: mein Kumpel Alex und seine Freundin Rebecca. 3 Leute, von denen ich mit Abstand die allergrößte Fußballklatsche hatte. Mit Alex hatte ich 2 Jahre und 24 Stunden zuvor noch das Achtelfinale von Deutschland gegen Schweden bei der WM 2006 gesehen, auch da hatte er mir schon Glück gebracht.
Der Optimismus war groß, in deutschen Landen. So, wie es auch sein muss. Allerdings galt es, die Türken mit Respekt zu behandeln, denn in fast allen Spielen erzielten sie den Ausgleichs- oder Siegtreffer ganz zum Schluss, Last-Minute-Türken, wie es sie nur ein großes Turnier hervorbringen kann. Ich war mir sicher, das man noch nicht einmal durch ist, wenn man in der 85. Minute mit 4:0 vorne liegt.
Hymne
Das Spiel begann wenig erbaulich – wieder ein Rumpelfußball wie schon gegen die Kroaten. Kein Wunder, spielten die Türken doch mit dem System der Kroaten, wohlwissend, das dieses System uns sichtlich Probleme bereitet. Die Türkei ging wenig überraschend und auch verdient in Führung, durch ein Tor, was an Komik kaum zu überbieten war. Lattentreffer und danach durch die Unterhose von Lehmann. Schmerzhaft, dabei zuzusehen. So darf es nicht weiter gehen.
TOOOOOOOR!
Doch zum Glück haben wir ja unser Dreamteam, Poldi und Schweini. Fast eine perfekte Dublette zum 1. Tor gegen die Portugiesen kam die Vorarbeit von Poldi und Schweini vollendete unmittelbar vorm gegnerischen Tor – traumhaft. Wieder einmal haben unsere Jungs gezeigt, dass sie stets zurückkommen können, wenn sie den richtigen Willen haben und mit dem Kopf bei der Sache sind.
Ecke gibts!
Noch immer gefiel mir das Spiel von den Jungs nicht unbedingt, ich hoffte und betete, es würde letztenendes reichen und Gary Lineker würde Recht behalten. Gespannten Blickes verfolgten meine weit aufgerissenen Augen den Ball, wie er durch die Reihen der Türken wanderte – und was ist DAS? BILDAUSFALL! Kollektives Entsetzen auf der Gottschedstraße, so auch bei den meisten anderen Zuschauen auf der Welt. Eine Systemüberlastung ließ meines Wissens nach die Verbindung abbrechen, und da die meisten Sender die Bild- und Toninformationen über die Zentrale in Wien erhalten, hatten die meisten kein Bild gehabt. Währenddessen hielt uns Reporter Bela Rethy per Telefon auf dem Laufenden.
Endlich war dann auch das Bild wieder da, nach quälend langen 6 Minuten und 20 Sekunden, weiter Konzentration aufs Spiel, ich war ohnehin schon dem Herzkasper nahe, man schaltete das Fernsehbild des Schweizer Fernsehens (die ihre Sendeinfos nicht über Wien beziehen), dazu Telefonreportage von Bela Rethy. Das Ausgleichstor sollte nicht die einzige Kopie sein – auch Klose, der zum 2:1 kurz vor Schluss traf, traf beinahe exakt genauso, wie ebenfalls gegen die Portugiesen – was ist denn hier los?! Das Eigenartigste daran: Man hörte das Tor noch bevor man es sah – durch den Unterschied der Übertragungsgeschwindigkeiten war der Jubel durchs Telefon von unserem Reporter einige Sekunden eher da als der Moment, als Klose zum 2:1 köpfte. Völlig egal, wie eigenartig diese Situation war, wir liegen vorne. Doch wir kennen ja “unsere” Türken, haben erlebt, wie sie doch immer und immer wieder das Unmögliche schafften, 2:1 kurz vor Schluss hat nichts zu heißen – alle Sinne auf höchste Alarmbereitschaft.
Danke an Uwe Schmoll von port01.com für die Fotos! |
Als hätte man es geahnt. Wieder war der Ton eher da als das Bild: “Lehmann!!!! Durch die Unterhose!!!!!!!!”, ich wollte mich noch nicht dem Nervenzusammenbruch ergeben. Ich wollte es nicht glauben, bevor ich es sah. Als nach ein paar Sekunden auch auf dem Bildschirm der Ball an Lehmann vorbei ins Tor kullerte, blieb kurz mein Herz stehen. Das darf nicht wahr sein! Es war die 86. Minute und wieder steht es Unentschieden. In Strömen floss mir der Angstschweiß die Stirn und den Rücken herunter, so auch den Tausenden anderen, die mit mir den Nachmittag und Abend auf der Gottschedstraße verbrachten. Jedem, ausnahmslos jedem rutsche das Herz in die Hose. Wir kennen sie, “unsere” Türken.
Proteste über nicht gegebenen Elfmeter
Außenverteidiger und Flügelflitzer Philipp Lahm sah beim Ausgleich nicht gut aus und hat sich viel zu leicht austanzen lassen. Ein Fehler, der letztenendes mit dem Aus bestraft werden sollte? Wir haben die 90. Minute, 3 Minuten Nachspielzeit, unsere Jungs rannten um ihr Leben. Wohlwissend, das die Kraft nach einem so belastenden Spiel für eine ganze Verlängerung vielleicht nicht reichen würde. Alles oder nichts, alle für einen, einer für alle. 5 Euro ins Phrasenschwein, aber wenn nicht jetzt, wann dann? Im Mittelfeld ergatterte sich Philipp Lahm noch einmal den Ball, bestrebt, seinen Fehler vom 2:2 wieder gut zu machen. Nach einem Doppelpass mit Thomas Hitzlsperger sahen wir Deutschen das, was wir schon viel eher ohne diese Nervenbelastung gesehen hätten: Erneut zappelte der Ball hinter dem türkischen Keeper Rüstü im Netz. Ein letztes Aufbäumen war der Schuss in die deutsche Glückseligkeit. Ich hielt zu diesem Zeitpunkt selbstredend die Kamera in die Luft – dankbar für das, mir diesen Moment nun wieder und wieder und wieder anschauen zu können. Es war der Anfang eines unglaublichen Ausnahmezustandes.
Noch war die Nummer aber immer noch nicht gegessen, wir hatten noch 3 Minuten Nachspeielzeit zu überstehen. Was ist das? Ein Freistoß in aussichtsreicher Position – für die Türken! Herr Gott nochmal, jetzt baut bloß keinen Mist! Hinter mir unaufhörliche und markerschütternde “Lehmann, Lehmann, Lehmann!”-Sprechchöre, meine eine Hand hielt die Kamera in die Luft, die andere meinen vor lauter Schock weit aufgerissenen Mund zu, möglicherweise um zu verhindern, meine Kinnlade würde auf den mit Glasscherben und Abfall bedeckten Boden der Gottschedstraße fallen.
TOOOOOOOOOOOOOR!
Der Schlusspfiff des Schiedsrichters war eine Erlösung, wie man es sich kaum vorstellen kann. Dieses Mal haben wir den Spieß umgedreht. Dieses Mal haben wir ausnahmsweise türkisch gespielt. Das einzige, an das ich mich unmittelbar nach dem Schlusspfiff erinnerte, war ein unglaubliches Fahnenmeer, jubelnde, schreiende und hüpfende Leute, ich herzte und drückte Alex ganz doll, achtete nicht mehr auf meine Kamera, ich hielt sie einfach in der Hand, die Schlaufe fest ums Handgelenk gewickelte. Ich schrie all meine Freude heraus, all meine Abspannung löste sich in Windeseile, das Adrenalin schoss mir bis zum Hals. Während hinter mir der Moderator des Vorprogramms und der Halbzeitshow ins Publikum “Wir sind im FINAAAAALE!” brüllte, sah ich mir die ganzen Menschen auf der Gottschedstraße an. Ich kannte keinen von ihnen, und dennoch waren wir eine Einheit.
Ich wusste, dass ich am nächsten Morgen früh rausmüsse auf Arbeit, doch es war mir egal. Weiterhin erfreute ich mich an der guten Laune auf der Fanmeile, jubelte, tanzte und erfreute mich zusehendst an der Tatsache, ins Finale eingezogen zu sein. Mit einem wild pochenden Herzen, das an diesem Abend erneut nur für die Deutsche Nationalmannschaft schlug, schloss ich mich an eine der zahlreichen Riesenpolonäsen an, es muss von oben ausgesehen haben wie ein Ameisenhaufen. Erinnerungen wurden wach an 2006 beim Spiel um Platz 3, einst auf dem Augustusplatz in Leipzig. Doch hier und heute haben unsere Jungs neue Geschichte geschrieben.
TOOOOOOOOOOOOOOOR! Die Entscheidung!
Auch die schönste Party hat einmal ein Ende, und so liefen Alex, seine Freundin Rebecca und ich vorbei an laut hupenden Autokorsos vorbei zurück zum Hauptbahnhof, wo die beiden geparkt hatten. Vorm Hauptbahnhof lieferte sich mir ein Bild, was ich so auch noch nie gesehen hatte. Autokorsos auf der Straße kannte ich, feiernde Menschen am Straßenrand auch, aber meine Leser können sich nun sicherlich Eins und Eins zusammenzählen: Autokorsos UND feiernde Menschen AUF der Straße. Sowas hab ich noch nicht erlebt. Anfangs noch zurückhaltend, zog es mich auch schnell auf die Straße, wo ich weiter fotograferte und filmte. Ich hätte nicht gedacht, so etwas zu erleben: Ein Humba Humba direkt auf der Straße, fröhlich behupt von dutzenden Autos voll mit glücklichen Fans.
Alex und Rebecca wollten nach Hause, für mich ging die Nacht noch weiter. Ein wenig mit Sorge, letzten Endes dann aber doch vertrauensvoll, überließen sie mich meinem Schicksal, ich blieb allein am Hauptbahnhof, umarmte dutzende fremde junge Männer und erfreute mich meines Daseins in jener Nacht. Im Gedächtnis wird vor allem auch jener Dialog, als wir zu Dritt noch auf dem Weg zum Hauptbahnhof waren: Ich sagte zu Alex “Ich bin Himmel!”, worauf dieser “Ich bin im Arsch…” antwortete.
Die letzte Minute
Erst als der grün-weiße Partybus aufkreuzte und die Straße vorm Hauptbahnhof komplett absperrte, war es für mich an der Zeit zu gehen. Da die Bahnen gerade weg waren, ich auch kein Geld fürs Taxi ausgeben wollte und auch nicht so lange warten wollte, lief ich nach Hause, ununterbrochen mit dem Autofähnchen wedelnd, was jemand verloren hatte. Ich kam um 2 zu Hause an, im Bett war ich dann um 3, mit einem Dauergrinsen, das seinetgleichen sucht. Einschlafen konnte ich so schnell nicht – alles andere als förderlich, wenn man weiß, man müsse halb 7 bereits wieder aufstehen.
Nun stehen wir auf der Schwelle zum Titel. Heute Abend wissen wir mehr. Und egal, wie das Spiel ausgeht: Ich bin unglaublich stolz auf meine Jungs und werde morgen nach Berlin reisen, um die Jungs zu feiern. Beide Blogartikel kommen demnach Mitte bis Ende kommende Woche.
Feiern vorm Hauptbahnhof[myvideo 4553538]
Für ein Humba Humba ist immer Zeit
33 Jahre, gebürtig aus Leipzig, seit 2010 wohnhaft in Stuttgart – Bad Cannstatt. Dauerkartenbesitzerin, Mitglied, ehemalige (Fast-)Allesfahrerin und Fotografin für vfb-bilder.de. Aus Liebe zum VfB Stuttgart berichte ich hier von meinen Erlebnissen – im Stadion und Abseits davon.
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